Gestatten, Erkül Bwaroo, Elfendetektiv


„Also dann“, redete Bilmo sich selber gut zu, „reiß dich zusammen. Die Leiche kann schließlich nicht ewig so rumliegen.“
Er holte noch einmal tief Luft und stellte sich dann auf die Zehenspitzen, an den Klingelzug erreichen zu können. Noch einmal zögerte er kurz, dann zog er kräftig daran. Nervös drehte er seine Zipfelmütze in den Händen und ertappte sich dabei, wie er hoffte, es sei niemand zu Hause. Doch da öffnete sich auch schon die Tür und ein distinguierter Butler blickte mit undurchdringlicher Miene auf ihn herab: „Sie wünschen?“
„Ich möchte zu Erkül Bwaroo.“ Bilmo schluckte, fügte dann aber noch rasch hinzu, „in einer geschäftlichen Angelegenheit.“
„Natürlich“, der Butler verzog immer noch keine Miene, machte jedoch einen Schritt zur Seite und gleichzeitig eine Geste ins Innere des Hauses. „Wenn Sie die Güte hätten, einen Moment im Vestibül Platz zu nehmen...“
Bilmo hatte keine Ahnung, was das sein sollte, trat jedoch ein. Gehorsam nahm er auf dem Stuhl Platz, auf den der Butler wies, allerdings nur vorsichtig auf dem Sitzrand. Denn er war überzeugt, dass es nicht sehr geschäftlich aussah, wenn er die Füße baumeln ließ.
„Wen darf ich melden?“, fragte der Butler mit ausdruckslosem Gesicht.
„Äh... mein Name ist Bilmo Taschler“, stotterte Bilmo.
„Sehr wohl.“ Der Butler verschwand durch eine Tür auf der rechten Seite und alleingelassen wagte es Bilmo, sich verstohlen umzusehen, wobei er weiter seine Mütze umklammert hielt.
Er befand sich in einer Eingangshalle, von der zwei Türen abgingen, eine rechts, durch die der Butler verschwunden war und eine identisch aussehende links. Überhaupt kam man sich vor, als wäre in der Mitte des Raumes ein Spiegel, denn alles war absolut spiegelbildlich. Der Stuhl, auf dem Bilmo saß, hatte ein genau gleich aussehendes Gegenstück auf der anderen Seite des Raumes. Nur war der eben leer, und Bilmo hatte bald das Gefühl, einen Frevel zu begehen, weil er die Symmetrie durch seine bloße Anwesenheit störte.

„Draußen wartet ein Herr Bilmo Taschler“, meldete der Butler seinem Herrn. „Er bittet um eine geschäftliche Unterredung.“
Erkül Bwaroo blickte von seinem Pollentörtchen auf, das er gerade mit Genuss verspeiste: „Bilmo? Bilmo Taschler? Nie gehört. Will da mal wieder einer eine Versicherung gegen Hexenflüche verkaufen?“
„Das glaube ich nicht. Es handelt sich um einen, äh, rustikalen Zwerg. Wegen eines Versicherungsvertreters hätte ich Sie nie gestört.“
„Natürlich nicht, Orges. Ein rustikaler Zwerg? Interessant. Es muss etwas Außergewöhnliches dahinter stecken, wenn ein Zwerg vom Land sich aus freien Stücken an einen Elf aus der Stadt wendet.“
„In der Tat“, Orges, der Butler, machte nach wie vor ein ausdrucksloses Gesicht.
Bwaroo strich sich gedankenvoll seinen üppigen Schnurrbart: „Très intéressant. Vielleicht ein neuer Fall. Nun gut, bitten Sie ihn in mein Büro. Ich komme gleich.“
Mit einer knappen Verbeugung verließ der Butler das Zimmer wieder. Erkül Bwaroo blickte ihm lächelnd nach. Ja, es war bestimmt ein neuer Fall. In letzter Zeit war nicht viel los gewesen und Bwaroo hatte bereits angefangen, sich zu langweilen. Selbst der brillanteste Verstand des Elfenreichs – und er zweifelte keine Sekunde daran, dass das der seine war – brauchte doch Anregung von außen. Philosophische Erwägungen oder theoretische Denkspielchen waren nichts für ihn. Nun, vielleicht bekamen seine grauen Zellen ja bald wieder etwas zu tun.
Gut gelaunt verzehrte Erkül Bwaroo den Rest des Törtchens, seiner Lieblingsspeise zu einem späten Frühstück wie heute, und trank genüsslich seine Tasse Würzmilch leer. Dann tupfte er sich sorgfältig die Mundwinkel mit der Serviette ab und erhob sich.
„Dann wollen wir doch mal sehen...“, murmelte er vergnügt.

Bilmo folgte dem Butler durch die Tür auf der linken Seite und fand sich vor einem gewaltigen, dafür aber vollkommen schmucklosen Schreibtisch aus dunklem Holz wieder. Gehorsam nahm er auf dem Stuhl davor Platz und hielt Ausschau nach dem Mann, den zu treffen er gekommen war. Als er niemanden entdeckte, begann er wieder, seine Zipfelmütze nervös in den Händen zu drehen. Um sich abzulenken, betrachtete er den Schreibtisch genauer. Alles darauf war geradezu pedantisch um die Schreibunterlage ausgerichtet, der Federhalter lag genau parallel zum Schreibtischrand. Links davon bildete ein würfelförmiges Tintenfass einen exakten rechten Winkel dazu. Einige Briefe auf der rechten Seite waren nach Größe sortiert und genau an der oberen Ecke ausgerichtet aufeinander gestapelt.
Da ging die Tür auf, und herein kam ein Elf mit eierförmigem Kopf und einem gewaltigen Schnurrbart. Das musste Erkül Bwaroo sein! Er war erstaunlich klein für einen Elfen, vielmehr als anderthalb Ahle konnte er nicht messen. Gut, damit überragte er Bilmo noch immer um eine halbe Ahle. Aber für einen Elfen war das doch klein. Dafür hatte er ein beachtliches Bäuchlein. Und wie der angezogen war! Der maßgeschneiderte Anzug war für die Tageszeit entschieden zu elegant, das wusste sogar ein Zwerg wie Bilmo. Und unter den modischen Hosen blitzten schwarze Lackschuhe hervor, in denen man sich geradezu spiegeln konnte. Irgendwie hatte sich Bilmo einen Privatdetektiv ganz anders vorgestellt. Der hier wirkte eher wie ein Stutzer, noch dazu wie ein alter Stutzer, ein ziemlich alter Stutzer. Und dann diese spitzen Ohren!
„Beltane“, murmelte Bilmo. So spitze Ohren hieß es, hatten nur Elfen, die an Beltane gezeugt worden waren.
„Samhain!“ Die Ohren des Neuankömmlings waren offenbar nicht nur spitz, sondern auch gut. „Ich wurde an Samhain gezeugt.“
„Oh, natürlich!“ Bilmo wurde rot und drehte seine dunkelrote Mütze noch heftiger. „Die Form ist ja ganz ähnlich...“
Grüne Augen musterten den Zwerg, während Erkül Bwaroo sich auf der anderen Seite an seinen Schreibtisch setzte: „Was kann ich für Sie tun, Monsieur?“
„Äh...“ Bilmo stutzte und starrte den Detektiv einen Moment irritiert an. „Eigentlich bin ich ein Zwerg“, sagte er dann vorsichtig.
Erkül Bwaroo zog die Augenbrauen hoch. Seine Eigenart, französische Brocken in seine Sprache zu mischen, war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sie selbst schon gar nicht mehr bemerkte. Aber, gestand er sich ein, es war wirklich zu viel verlangt, dass ein Zwerg, der der Aufmachung nach ein einfacher Handwerker war, auch noch Fremdsprachen beherrschte. Vielleicht sollte er versuchen, diese Angewohnheit wieder abzulegen. Dem Elf war durchaus bewusst, dass er diese Marotte eigentlich nur angenommen hatte, um allen zu zeigen, welch weitgereister Elf er war. Elfische Adelsfamilien und solche, die es sich finanziell leisten konnten, schickten ihre Sprösslinge gern in fremde Welten, um ihrer Erziehung den letzten Schliff zu geben. Bwaroo aber stammte aus einfachen Verhältnissen und hatte hart arbeiten müssen, um sich seine Reisen leisten zu können. Deshalb sollte man auch ruhig merken, dass er viel herumgekommen war. Da er einen Streifzug durch Belgien besonders genossen hatte – ein Land, das den Feyen so freundlich gegenübersteht, dass es ein Kräuterbier nach einem Kobold benannte – hatte er sich die französische Sprache für seine verbalen Einsprengsel erkoren. Inzwischen selbst ein wohlhabender Mann und auch in gehobenen Kreisen geschätzt und geehrt, hätte er so eine etwas snobistische Ausdrucksweise eigentlich nicht mehr nötig gehabt, aber da hatte er sich bereits daran gewöhnt und blieb dabei. Nun, vielleicht könnte er sich ja ein wenig zurückhalten, beschloss er. Deshalb ging er einfach über die Antwort seines Besuchers hinweg und fragte lediglich noch einmal: „Und wie kann ich Ihnen helfen?“
„Oh, äh, ja...“ Bilmo wusste plötzlich gar nicht mehr, wie er anfangen sollte. Dabei hatte er sich die Worte doch so schön zurecht gelegt. „Es ist wegen der Prinzessin.“
„Das Zwergenreich hat doch gar keine Monarchie“, wunderte sich Bwaroo.
„Oh, nein, es handelt sich um eine Menschenprinzessin!“
„Ah. Und was ist mit ihr?“
„Sie ist tot.“
„Wie bedauerlich.“
„Ja, und jetzt liegt sie schon seit zwei Tagen in unserer Hütte“, Bilmo atmete auf. Er hatte es ausgesprochen. Das Schlimmste war überstanden.
Erkül Bwaroo runzelte die Stirn.
„Ich bin Privatdetektiv, kein Bestattungsunternehmer“, erklärte er in leicht gekränktem Ton.
„Ja, genau“, beeilte sich Bilmo, zu versichern. „Sie wurde ermordet!“
Der Elf sah den Zwerg eine Weile schweigend an.
„Vielleicht erzählen Sie mir, wie sie zu Ihnen gekommen ist“, forderte er den Zwerg schließlich auf.
„Also. Es ist schon eine Weile her, da kamen meine Brüder und ich – also eigentlich sind wir nur fünf Brüder und die anderen beiden sind Vettern, aber verwandt ist verwandt und da nennt man uns eben die sieben Brüder. Ist einfach einfacher...“ Bilmo blickte zu Bwaroo, um zu sehen, ob der auch verstanden hatte. Als dieser nickte, fuhr er fort: „Also, wir kamen nach Hause und fanden unser Abendessen angeknabbert, und vom Bier war auch probiert worden, und alle Betten waren zerknittert und im letzten, das ist das von Gemschi – ich bin nämlich der Älteste, und damit das Familienoberhaupt bei uns, aber der Größte ist Gemschi und deshalb hat er das größte Bett – also, da lag dieses Mädchen, zusammengerollt wie ein Kätzchen und wunderschön.“
„Sie lag wunderschön da?“
„Nein, sie war wunderschön. Was für eine Figur, und ihr Haar, lang und so schwarz wie Ebenholz. Dazu ihre Haut, hell wie Milch, nein, wie frischer Schnee. Und ihre Lippen so rot wie, wie... eine echte Schönheit eben. Wenn Sie wissen was ich meine.“
„Eh bien, ich denke schon. Und das war die tote Prinzessin?“
„Ja. Nein.“ Bilmo knetete eifrig seine Mütze. „Da hat sie noch gelebt! Sie wachte auf und erzählte uns, sie wäre auf der Flucht vor ihrer bösen Stiefmutter, die sie abmurksen wollte, und ob sie vielleicht bei uns wohnen könnte. Die Prinzessin, nicht die Stiefmutter.“
„Und Sie ließen sie bei sich wohnen.“
„Ja, natürlich. Sie war ganz klar in Not. Wir machten aus, dass sie den Haushalt für uns führen sollte – saubermachen, kochen, solche Sachen eben.“
Erkül Bwaroo betrachtete den Zwerg. Er hatte einen für Zwergenverhältnisse ziemlich kurzen, aber gepflegten Vollbart. Seine Kleidung schien ihm jedoch zwei Nummern zu groß zu sein. Der abgeschabte Gürtel, an dem ein Hammer und ein Meißel hingen, war früher ein Loch weiter getragen worden, das zeigten deutlich die Abdrücke der Schnalle. Und die Mütze hatte Flecken. Soviel zur guten Haushaltsführung. Doch im Moment interessierte den Elfen etwas anderes: „La Princesse - hat sie gesagt, warum die Stiefmutter sie beseitigen wollte?“
„Sie wusste es nicht. Ich hab es auch nie verstanden, keiner von uns hat das. Die Prinzessin war immer lieb und nett. Und sie war so, so... unschuldig.“
„Ein wenig naiv.“
„Na ja, richtig. Aber sie war bis dahin ja nie aus dem Palast raus gekommen. Die Tiere mochten sie übrigens auch. Ständig waren Vögel und Eichhörnchen vor der Hütte, Rehe und Hasen kamen zu Besuch. Sie sang mit ihnen, äh, mit den Vögeln und die anderen streichelte sie und spielte mit ihnen Hofstaat.“
„Hofstaat?“ Der Elf runzelte die Stirn.
„Ja. Sie war die Königin und die Tiere ihre Minister und Höflinge und so. Und jetzt ist sie tot.“
„Was ist geschehen?“ Erkül Bwaroo beugte sich nach vorn. Jetzt wurde es richtig interessant.
„Wir wissen es nicht genau. Wir Sieben arbeiten tagsüber immer in unserem Bergwerk, und als wir vorgestern heimgekommen sind, da lag die Prinzessin auf dem Boden und atmete nicht mehr. In der Hand hielt sie einen Apfel, einen angebissenen. Da, wo sie abgebissen hatte, war alles braun.“
„Braun? Sie meinen, das Fruchtfleisch hatte sich braun verfärbt? Das ist doch nicht ungewöhnlich.“
„Doch, dieses Braun war anders, mehr so... na ja, irgendwie anders halt...“ Bilmo fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er wirkte plötzlich erschöpft und müde. Doch dann räusperte er sich und rappelte sich wieder auf. „Wir denken, dass unsere Prinzessin vergiftet wurde. Bestimmt war es die Stiefmutter.“
Bwaroo lehnte sich wieder zurück: „Wenn Sie das schon wissen, was führt Sie dann zu mir?“
„Wir reden hier von einer Königin!“ Der Zwerg wurde nun ganz aufgeregt und hörte sogar auf, seine Mütze zu kneten. „Eine wichtige Frau. Eine mächtige Frau. Die Menschen mögen es nicht, wenn man auf ihre Herrscher losgeht – oder ihre Herrscherinnen. Und in unserer Hütte liegt die Leiche und... wir wussten nicht, was wir mit ihr machen sollten. Sie war immer noch so schön. Wir konnten es nicht ertragen, sie einzubuddeln.“
„Zu beerdigen.“